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Die Quelle, die ein Bach sein wollte

Es war einmal ein kleine, junge Quelle, die davon träumte ein Bach zu sein. Munter sprudelte sie aus einer Felsspalte hervor und liess ihr Wasser den Berg hinunterfliessen. Doch kaum erreichte das Wasser die Erde unter dem Felsen, versickerte es spurlos. Die junge Quelle brachte weiter fleissig ihr Wasser hervor, das dann ein Stück den Fels hinunterfloss und wieder in der Erde verschwand. So ging das Jahr für Jahr: Wasser hoch, den Felsen hinab, versickern. Bis sich die junge Quelle etwas entmutigt an den Himmel richtete.

"Vater Himmel, ich möchte so gerne ein Bach sein, aber was ich auch tue, mein Wasser versickert. So komme ich nicht weiter."

Vater Himmel aber antwortete ihr: "Meine liebe junge Quelle, du kannst alles sein, was du dir erträumst. Ein Bach, ja sogar ein Fluss oder See! Auch wenn du es noch nicht siehst, dein Wasser fliesst nicht vergebens. Mach mutig weiter und gib nicht auf!"

Und so tat die Quelle wie ihr geheissen und liess ihr Wasser weiterhin mutig zwischen der Felsspalte hervorquellen. Sie schickte es den Berg hinunter, wo es kurze Zeit später versickerte. Doch nicht lange darauf bemerkte die Quelle etwas: Einen sanften Graben im Felsen, kaum sichtbar, den ihr Wasser im Laufe der Zeit geschliffen hat. Und dann, eines Tages, begann sich ihr Wasser am Fusse des Felsens zu sammeln. Die Erde war gefüllt mit dem versickerten Wasser und nun bereit für den Bach, den die Quelle schon immer hatte sein wollen.


 

So geht es mir gerade. Ich bin die junge Quelle, die ihr Wasser hinunterschickt und immer wieder an den Punkt kommt, sich zu fragen, ob ihr Fliessen überhaupt Sinn hat. Vielleicht klingt es verbittert oder frustriert und auch wenn diese zwei Gefühlsregungen sich immer wieder in den vergangenen Monaten in mir bemerkbar gemacht haben, so steckt hier noch viel mehr dahinter, denn ich habe die Magie wieder entdeckt.


Eiskristalle im Wasser.

Eine Zeit lang habe ich sie für verschwunden gehalten. Nicht dass es mir nicht gut ging, im Gegenteil, ich fühlte mich gegen Ende des letzten Jahres wirklich gut. Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich meinem Bedürfnis nach Winterruhe so nachgehen, wie ich mir das seit Jahren gewünscht habe. Bereits zu Beginn des letzten Jahres habe ich mir nämlich meine Winterruhe eingeplant, die ehrlich gesagt immer noch ein wenig andauert, denn auch wenn die Sonne mich zu Frühlingsgefühlen verführen will, so stecken wir immer noch Mitten im Winter.

In dieser Winterruhe habe ich festgestellt, dass ich eigentlich schon seit einiger Zeit "wintere". Nicht dass ich in den vergangenen Jahren nichts getan hätte. Ich habe viel gearbeitet, geplant, geträumt, aufgebaut, bin unzählige Male gescheitert, habe Ideen über Bord geworfen und mich immer wieder auf etwas Neues eingelassen. Aber ich habe auch Tempo aus meinem Leben rausgenommen, so wie ich mir das gewünscht habe, als ich 2020 meinen Job gekündigt habe. Ich musste erst lernen, langsam zu werden. Das hat Jahre gedauert und nach wie vor gelingt es mir nicht immer. Aber die Rhythmen der Natur führen es mir immer wieder vor Augen und ich denke mir, dass auch das Leben, die Lebenskapitel, ihren Rhythmus haben, der den Jahreszeiten entspricht. Das letzte Lebenskapitel, die letzten drei, vier Jahre, habe ich, ohne dass ich mir dessen bewusst gewesen wäre, dem Winter gewidmet. Und es ist genau dieses sich nicht bewusst sein, was mich, wie die junge Quelle aus meiner Geschichte, veranlasste, mich an den Himmel zu wenden. Ich floss und floss, ich brachte ein Angebot nach dem anderen in die Welt, aber mehr als mir lieb war, blieb ich mit einem Gefühl des Scheiterns zurück. Mein Wasser versickerte, weil es noch nicht an der Zeit war. Weil die Erde noch nicht gesättigt war. Ich möchte nicht undankbar klingen, denn die vergangenen Jahre waren unglaublich. Dieser Blog - den ich nun übrigens zu Magazin umbenannt habe -, die Rituale und Retreats, die Yogastunden, all das erfüllt mich ungemein und ich bin so dankbar, dass du da bist, um diese Zeilen zu lesen.


Der Bergbach friert zu.

Die letzten Monate habe ich viel ungestörte Zeit in der Natur verbracht, weg von social media, weg von meiner Arbeit. Ich habe reflektiert, losgelassen, abgeschlossen und mich begonnen neu auszurichten. Auf dieses Jahr, aber auch auf ein neues Kapitel. Ich spüre den Samen in mir, der seit Jahren schlummert und ruht. Er hat unterirdisch bereits zu keimen begonnen und ist bereit aus der Erde zu bersten und endlich zur Pflanze heranzuwachsen, für die er bestimmt ist. Er ist die Quelle, die geduldig wartet, bis sie endlich die ersten Spuren ihres Wirkens im Felsen entdeckt.

Wie das Leben so ist, habe ich natürlich keine Ahnung, was es in diesem Jahr so bringen wird, aber ich spüre Klarheit in mir. Meine Zeit möchte ich dem Schreiben und dem Durchführen von Ritualen widmen. Vielleicht ändert sich dies wieder und wie genau ich das Schreiben und die Rituale wirklich zu meinem Hauptberuf machen kann (denn ja, auch ein einfaches Leben braucht Geld), weiss ich auch noch nicht genau. Aber mein innerer Fluss zieht mich so stark in diese Richtung, dass ich ihn nicht mehr ignorieren kann. Und schlussendlich geht es vielleicht genau darum, wie es der Vater Himmel sagt: "Auch wenn du es noch nicht siehst, dein Wasser fliesst nicht vergebens. Mach mutig weiter und gib nicht auf!"


Eisschicht im Bergbach

Und so war es dann auch am Bach, dass ich die Magie wiedergefunden habe. Sie hat sich in den vergangenen Wochen immer wieder gezeigt, vor allen in der Form von Vögeln. Im Wald, aber auch in meinem Garten am Vogelhäuschen, haben sie mir das Glitzern des Alltags wiedergebracht. Die volle Magie, die sich wie ein gutgemeinter Faustschlag zeigt, erwartete mich aber am Bach. Tagtäglich schaute ich dem Eis zu, das sich wie das grösste Kunstwerk der Natur präsentierte. Es veränderte sich Tag für Tag und ich war fasziniert. Und dann hörte ich das Wasser flüstern. So wie es in meinem ersten Sommer hier in den Bergen geflüstert hat. Sanft, aber bestimmt. Und es erzählte mir die Geschichte der Quelle, die ein Bach sein wollte.

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crappa e plema, Steine und Federn
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Ich bin auch Yoga Lehrerin und führe Rituale und Retreats in der Natur durch. Vielleicht sehen wir uns mal auf der Matte?

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