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Lieben und Loslassen

Seit einigen Jahren begleitet mich der Tod. Er kam damals unerwartet in mein Leben, als meine beste Freundin ganz plötzlich starb und seither beschäftige ich mich immer wieder mit meiner eigenen Sterblichkeit. Im vergangenen Monat trat der Tod wieder in mein Leben, doch dieses Mal in ganz anderer Form.

Und plötzlich klopft er wieder an. Er steht an meiner Tür und schaut mich freundlich an. Dieses Mal habe ich ihn gerufen. Dieses Mal ist er nicht unverhofft erschienen. Dieses Mal ist er sanft.

Das Leben besteht eigentlich nur aus zwei Dingen, geht es mir durch den Kopf. Lieben und loslassen.

Aber wie kann ich etwas loslassen, das ich so sehr liebe?

Es ist einer der grössten Akte der Liebe, wenn du sie loslassen kannst, antwortet er.


Mäusebussard Feder

Wieder einmal steht der Tod vor meiner Tür. Wir kennen uns. Er hat mein Leben schon ein paar Mal gestreift, doch wirkliche Bekanntschaft haben wir vor etwas mehr als vier Jahren gemacht, als eine meiner besten Freundinnen, Aline, mit ihm ging. Damals tauchte er unvorbereitet, rau, zerstörend und erschütternd auf. Mit voller Wucht traf er mich und brachte meine gesamte Welt zum einstürzen. Ich dachte, er würde auch mich mitnehmen, denn ein Teil von mir starb mit Aline. Aber deswegen war der Tod nicht gekommen. Es war nicht meine Zeit, sondern unsere Zeit uns persönlich zu begegnen. Wie du dir vorstellen kannst, mochte ich ihn damals nicht. Ich musste durch ihn jemanden loslassen, wofür ich noch überhaupt nicht bereit war. Wir waren alle noch so jung und diese Begegnung machte für mich keinen Sinn.

Dann, ein paar Monate später, kündigte er sich wieder an. Meine Grossmutter lag im Sterben. Doch dieses Mal war er sanft und weich. Ich spürte seine Gegenwart in der Nacht, in der sie starb und er war freundlich.

Über die Jahre lernten wir uns näher kennen, der Tod und ich. Nicht weil jemand aus dem Leben schied, sondern weil ich Fragen an ihn hatte und wissen wollte, wie sein Gesicht wirklich aussieht. Ich stellte fest, dass der Tod zum Leben gehört, ob ich dies nun wollte oder nicht, und dass wir eigentlich täglich mit ihm zu tun haben. Immer dann wenn etwas zu Ende geht, ist auch der Tod mit von der Partie. Wieder einmal ist die Natur das beste Beispiel. Jahr für Jahr sterben die Pflanzen im Herbst. Was wir aber in unserer Gesellschaft vergessen, wenn es um den Tod geht, ist, dass irgendwann wieder der Frühling auftaucht. Dass nach dem Tod die Wiedergeburt, der Neuanfang kommt.

Also ist das Loslassen eigentlich gar kein Loslassen für immer, sondern nur auf Zeit?, frage ich ihn nun.

Ja, antwortet der Tod, die Liebe, das Leben geht weiter.


Auch wenn ich mit dem Tod auf seelischer Ebene verbunden bin und glaube zu verstehen, was er meint, reisst und zerrt es in diesen Tagen in meiner Brust. Unsere Katze Mimmi wird immer schwächer. Sie ist eine Greisin, beinahe 19 Jahre alt, und wir alle wussten, dass der Zeitpunkt, sie gehen zu lassen, eher bald als später kommen würde. Aber Mimmi war über die Hälfte meiner Lebens Teil von unserer Familie und nun soll ich sie einfach so loslassen? Über die letzten Monate wohnte sie bei mir und es war wundervoll, ihr weiches Fell streicheln zu dürfen, von ihrem leisen Murren begrüsst und ihrem lauten Miau aufgeweckt zu werden. Ich liebe dieses Tier so sehr! Sogar dann, wenn ich ihr jeden Morgen ihre Fleischsmoothies mixen muss, weil sie nicht mehr gut beissen kann.

Insgeheim habe ich mir gewünscht, dass ich sie in den Tod begleiten darf, denn ich habe mich schon immer sehr mit ihr verbunden gefühlt. In den letzten Monaten habe ich sie oft gebeten mir zu zeigen, wenn ihre Zeit gekommen ist. Das erste Zeichen kam in einem Traum. Darin konnte sie ihre Hinterbeine nicht mehr bewegen. Das zweite Zeichen kam am Todestag von Aline, als sie nicht mehr frass.

Zwar haben wir nach einem Tierarztbesuch nochmals zwei Wochen geschenkt bekommen, aber nun wird klar, dass ihre Lebenskraft schwindet. Plötzlich funktionieren ihre Hinterbeine nicht mehr. Wie im Traum. Ich weiss, dass ich sie nun erlösen muss, dass sie leiden wird, wenn ich sie am Leben lasse, nur weil ich mich noch nicht verabschieden will, nur weil ich noch nicht bereit bin. Also rufe ich den Tod.

Wie ein alter Freund kommt er und trägt Mimmi auf sanften Flügelschwingen davon. Die Tierärztin meint beim Einschläfern, dass Mimmi nur durch unsere Fürsorge überhaupt so alt wurde und dass es auch in unserer Verantwortung liegt, ihr beim Sterben nachzuhelfen, weil sie in freier Wildbahn nie so alt geworden wäre. Es leuchtet mir ein und auf rationaler Ebene weiss ich, dass es die richtige Entscheidung ist, sie einschläfern zu lassen. Und dennoch: ich habe den Tod gerufen. Ich habe in ein Leben eingegriffen. Ich habe mich entschieden etwas loszulassen, das ich so sehr liebe...


Ich habe noch keine abschliessenden Worte für diesen Text. Mimmi sucht mich beinahe nächtlich in meinen Träumen heim und jedes Mal muss ich mich wieder dazu entscheiden, sie gehen zu lassen. Ich vermisse sie sehr, doch in diesem Vermissen und in diesen Träumen schwingen eben die Liebe und das Loslassen mit, die sich zwar wie Gegensätze anhören, doch eigentlich zueinander gehören. Denn wenn wir uns entscheiden ein Tier in unser Leben zu lassen und es zu lieben, wissen wir, dass wir es ziemlich sicher auch wieder loslassen müssen. Und nur durchs Loslassen kann wieder Neues entstehen, sowohl für mich als auch für Mimmi.

Mein alter Freund, der Tod, legt mir seine Hände tröstend auf die Brust. Hörst du deinen Herzschlag? Hörst du wie du am Leben bist?

Ja, der Tod gehört zum Leben dazu, das Lieben zum Loslassen und das finde ich schrecklich. Aber eben auch schrecklich schön.


eine Katze, die im Gras schläft
Mimmi (3. Juni 2004 - 7. März 2023)


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Ich bin auch Yoga Lehrerin und führe Rituale und Retreats in der Natur durch. Vielleicht sehen wir uns mal auf der Matte?

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